Alfons Karl Zwicker Ohr der Menschheit, würdest du hören?
Johannes Brahms Ein deutsches Requiem
1./2. April 2023

ZUM 400.GEBURTSTAG HAT DER ORATORIENCHOR ST.GALLEN BEIM ST.GALLER KOMPONISTEN ALFONS K. ZWICKER EIN CHORWERK BESTELLT. AM SAMSTAT WURDE „OHR DER MENSCHHEIT“ IN DER KIRCHE ST.LAURENZEN URAUFGEFÜHRT. DAS PUBLIKUM ERLEBTE HOCHESPRESSIVE, ABER AUCH SPHÄRISCHE KLÄNGE.

Lange musste Alfons K. Zwicker wegen Corona auf die Uraufführung seines Chorwerks «Ohr der Menschheit» warten. Zu seinem 400-Jahr Jubiläum hatte der Oratorienchor St.Gallen das Stück in Auftrag gegeben. Mit drei Jahren Verspätung wurde es jetzt aus der Taufe gehoben. Es ist für einen Laienchor ein anspruchsvolles, komplexes Werk, das aber famos gemeistert wurde. Zwicker hat zwei Gedichte von Nelly Sachs vertont, der grossen deutschen Lyrikerin, die nur knapp dem Holocaust entkam. Er lässt zwei Klangwelten aufeinandertreffen und verschmelzen: Die kraftvoll expressiven Teile der Vertonung des Textes «Wenn die Propheten einbrächen durch die Türen der Nacht» und die feineren, bisweilen fast sphärischen Klänge des «Chors der Ungeborenen».

Der St.Galler Komponist begibt sich da intensiv an die Scheidelinien von Tod und Geburt. Den «Chor der Ungeboren» lädt er mit viel hoffnungsvoller Kraft auf: Die Veränderung zum Positiven kommt von den Kindern als «kommende Lichter für eure Traurigkeit». Klar und rein setzt der Youth-Chor aus Dinkelsbühl diese Kinderchorpartien um. Zwicker ist eine unmittelbar berührende Komposition gelungen, mit aufrüttelnden, auch schmerzlich eindringlichen Passagen, aber auch mit zärtlich lichten Ideen. Die schönsten Momente gelingen ihm, wenn der Chor der Ungeborenen die Prophetenpassagen überlagert, wenn die Kinderstimmen sich Stück um Stück dazwischen schieben. Hoffnungsvoll lässt Zwicker das Werk in für ihn ungewöhnlichem hellstem Fis-Dur enden. Seine Musik ist voll genau gedachter Klangfarbe. Zwicker lässt sich durch das ungemein Musikalische von Nelly Sachs’ Texten stark berühren und zu subtiler, abwechslungsreicher Nuancierung in der Tonsprache verführen. Er entlockt dem Orchester, das im Schlagwerk mit Vibrafon, Röhrenglocken und Zimbeln um besondere Klangreize verstärkt wird, hochexpressive, spannend suggestive Klänge.

EIN ENDE IN HELLEM DUR

Dem Oratorienchor unter Uwe Münch, verstärkt durch den Chor der Berufsfachschule Musik Mittelfranken, gelingt eine genaue, mutige, engagierte Umsetzung dieses anspruchsvollen zeitgenössischen Werks. Er hat diese Herausforderung angenommen und singt die Partien überzeugend sicher. Mit Hanna Zumsande und Kristján Jóhannesson stehen bei dieser Uraufführung zwei Solisten zur Verfügung, die mit grosser Souveränität dieses Chorwerk abstützen, tragen und vorantreiben. Die Sopranistin Hanna Zumsande auch mit wunderschönen Vokalisen, die sie zur einnehmenden Fürsprecherin der Kinder im «Chor der Ungeborenen» machen. Und Kristján Jóhannesson (im Moment am Theater St.Gallen in der Oper «The Time of Our Singing» zu hören) als kraftvoller, warm sonorer Bariton, der die düster aufgewühlten Partien des Prophetentextes quasi als Prior dieser Propheten faszinierend untermauert. Alfons K. Zwickers neues Chorwerk geriet zu einer Aufführung, die den 400. Geburtstag des Oratorienchores zu einem besonderen Anlass in der St.Galler Chorgeschichte werden liess. Man wünscht dem Werk «Ohr der Menschheit» gerade auch angesichts der aktuellen Krisen der Menschheit auch bei anderen Chören weitere Verbreitung und weitere engagierte Aufführungen.

Martin Preisser, St. Galler Tagblatt 2. April 2023